Abi '83 - Ein Starker Jahrgang
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Philosophisches

Abi 1983 – Bleibt alles anders?

Vorsicht! Nach dem Lesen fühlst Du Dich etwas reifer!

Wer jetzt gerade Abi macht, ist nicht nur zu spät  geboren (und wer zu spät kommt, der ist schon genug bestraft), sondern hat auch vieles verpasst, was wir noch genießen durften.


Wir hatten Birne und Schulterpolster. Trotz RAF, eisernem Vorhang und unbedingtem Schießbefehl gab es eine relative Sicherheit. Der Feind saß im Kreml, es gab ein rotes Telefon zwischen USA und UdSSR, und andere Länder spielten keine Rolle. Die Ökos und Fundis randalierten gegen Kraftwerke und NATO, ohne freilich Gegenentwürfe zu haben, denn der Strom kam damals wie heute aus der Steckdose. Berlin hatte seine Punks und Dealer am Bahnhof Zoo und ließ sich vom Rest der Republik allimentieren (nun ja, das ist geblieben).

Samstagnachmittag spielten wir Fußball oder schauten die Bundesliga an, und abends gab es "Verstehen Sie Spaß" und "Wetten, dass". Dienstagabend kam "Dallas", und täglich um 20 Uhr die Tagesschau, zu der man tunlichst niemanden anrufen sollte, denn Video war noch nicht in jedem Haushalt angekommen.


Feinstaub produzierten wir beim rauchen - mit Tränen in den Augen. Heute raucht man Zigaretten im Freien und friert sich einen ab. Rauchen ist schlecht, denn Zigaretten enthalten Teer, Nikotin, und das ist alles groß, fett und hässlich vorne aufgedruckt. Sie können sich nicht vorstellen, dass man Zigaretten selbst dreht und eigene Zutaten aus dem Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Persien hinzugibt. Und diese Länder kennen sie auch nur aus Kriegsberichten.

Fahrradfahren war schon immer sauber. Und Benzin war schon immer viel zu teuer. Die heutigen Abiturienten kennen den Bundestag nur bunt und in Berlin. Wo liegt Bonn? Was passierte im Schlamm von Dinkelsbühl? Die Stones, Pink Floyd und Deep Purple kennen sie nur vom Hören sagen. Wer sind Jimi Hendrix, Mick Jagger und Joan Baez? Bei "The Day After" denken sie an Kopfschmerzen oder den Frauenarzt, nicht an einen Film. Und Cola gab es schon immer nur in unkaputtbaren Plastikflaschen. Der Verschluss war immer aus Kunststoff und nie aus Metall. Cola in Glas-Flaschen? Und dann nur ein Liter?


Was sind eigentlich Knibbelbilder? Ministeck? Im Übrigen hieß Twix niemals Raider und war auch nie "der Pausensnack". Ach ja: Und was zum Teufel sind Treets? Auch eine Kugel Eis hat nicht immer einen Euro gekostet, es gab keine Marken, die "Vanilla" oder "Fiorucci" heißen, und erst recht gab es nie eine Zeit ohne Marken. Was ist übrigens ein Parka? Und wieso sollte man sich Windeln um den Hals hängen – oder Palästinensertücher?

Wo wir gerade vom Outfit sprechen: Was sind Popper? Was ist ein Popperschnitt? Und warum sollte man sich seine Schultern auspolstern? Gab es wirklich eine Zeit ohne Aids? Wo man ohne Kondome seinen Spaß hatte – und einige Wochen später die Erfolgskontrolle.

Rollschuhe haben Rollen, die hintereinander angeordnet sind und der Schuh ist immer schon dran; und was sind Disco-Roller? „Wetten dass“ war immer mit Thomas Gottschalk, Pommes hat man schon immer im Backofen gemacht – und was sind Bonanza-Räder? Klar kennen sie Günther Netzer und Franz Beckenbauer: Das sind Fußball-Kommentatoren. Die jetzt Zwanzigjährigen haben noch nie beim Schwimmen über den Weißen Hai nachgedacht. Sie wissen nicht, wer Jake war und wie man in Chicago richtig Auto fährt.

Sie haben noch nie einen Big Mac in einer Styropor-Verpackung gesehen und schon immer gibt es Haarschaum und Unisex-Hairstylingprodukte. Sie glauben, dass es nicht sein kann, dass Puma-Schuhe mal der letzte Schrei waren und dass das Top-Modell von Adidas nur umgerechnet 49 Euro gekostet hat und keine Luftkammern hatte und nicht blinkte. Sie haben noch nie ein Snickers mit roter Verpackung gesehen.

Sie wissen nicht, warum Niki Lauda immer eine Mütze trägt. Sie kennen Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer nur ohne Brille und Seitenscheitel. Den netten Mann von Persil kennen sie gar nicht. Hieß der Mann nicht Clementine und war eigentlich eine Frau? Sie wissen nicht, dass Frau Sommer nicht mit Dr. Sommer von der Bravo verheiratet ist, sondern bei Jakobs-Kaffee arbeitet und an Festtagen ein Pfund Krönung mitbringt. Sie wissen nicht, dass Parkuhren früher auch 5 Pfennig Stücke genommen haben.

Diese zu spät geborene Generation, die gerade Abi macht, hat nie einen Fernseher mit nur drei Programmen gesehen - ganz zu schweigen von einem Schwarz-Weiß-Fernseher. Und vor allem nicht ohne Fernbedienung! Sie hatten immer Kabel- und Satelliten-Fernsehen. "Nein, wir haben gaaanz bewusst keinen Fernseher." Fernsehen ist schließlich schlecht für die Augen. Zudem waren diese Geräte damals prohibitiv teuer, vor allem farbige. Der Farbfernseher war noch eine Allegorie auf den Luxus.

Bonanza war so herrlich progressiv. Eine Patchwork-Familie zu Zeiten, als jene noch unüblich waren, eine rein männliche Patchwork-Familie noch dazu. Da ist die Diskussion um die Homoehe heute für uns doch nur zu gähnen. Wir durften zuschauen, wie sie sich verprügelten und wieder vertrugen, denn wir hatten die Bedeutung der Globalisierung erkannt, lange bevor John Naisbitt das Wort erfand. Was ist eigentlich Beta? Der Walkman wurde von Sony vor ihrer Geburt erfunden und in ihrer Kindheit durch den MP3-Player abgelöst.


Blasen machten uns als Kinder mit Seifenlauge Spaß und später..., ok. Aber es gab keine Blasen, um sich vor der Demokratie zu drücken. Wir argumentierten direkt, ohne zu zerstören. Demos waren friedlich und hatten Aussagekraft und Ziele. Wir machten die Menschenkette. Griechenland kannten wir noch als Urlaubsland und aus finsteren Sagen mit Odysseus und Herakles. Die Finsternis ist geblieben, aber die Namen haben sich geändert. Italien versucht sich auch damit. Blasen machen keinen Spaß mehr.


Bandsalat war übrigens nichts zum Essen, wie die zu spät geborenen denken. Wie oft kann man eine inwendig zerknitterte, oft mit dem Kugelschreiber aufgespulte Kassette mit Star Sprangled Banner von Jimi Hendrix anhören? Erstaunlich oft. Beim Radio wird man dann mit einem frappierenden technischen Paradox konfrontiert: Nichts ist so ungeeignet als Aschenbecher wie der Tonbandspulenkern. Und eben deshalb wurde er mit Vorliebe dafür benutzt. Bandsalat gibt es heute nicht mehr, und auch keine Tonbandspulenkerne. Deshalb ist Rauchen heute verpönt.

Atari ist für die meisten genauso weit weg wie Schallplatten: Denn sie haben nie einen Plattenspieler besessen, da ja schon vor ihrer Geburt die Compact Disc erfunden worden ist - und kurze Zeit später MP3. Sie haben nie Space Invaders und Pac Man gespielt. Und erst recht kann niemand von ihnen glauben, dass man Geld ausgegeben hat, um ein "Telespiel" zu spielen, das nicht einmal so aussah wie Tennis. Bei Apple denken Sie an den iPhone und den iPod - nicht an Let it Be und John, Paul, George und Ringo. E-Mail war noch für Mamas Töpfe. Sie wissen nicht, dass man Daten auch auf Kassetten speichern kann, denn sie haben auch noch nie eine Diskette gelocht, geschweige denn umgedreht.

Damals wurde noch richtig gebastelt – traditionelle Mechanik. Ein kleineres Ritzel hinten und ein größerer Vergaser vorne machen aus einem Moped eine Harley. Gefühlt jedenfalls. Beim Käfer und der Ente konnte man praktisch alles selbst machen. Das waren übrigens Autos. Hinten konnten selbst Ungeübte die Rückbank herausnehmen. Das war wichtig. Das konnten auch die Mädchen. Erstaunlich, wie beweglich man seinerzeit war.

Freunde waren noch so richtig greifbar. Man hat sich getroffen und nächtelang über Nachrüstung, Abrüstung und Kernenergie diskutiert. Virtuell war nur der Schultag danach, nicht die Freunde. Und statt dem Facebook gab es ein Telefonbuch. Gedaddelt haben wir auch bereits. Aber das war hartes Training mit "Space Invaders".


Gezahlt haben wir mit Mark und Pfennig. So richtig teuer wurde das Leben erst mit dem TEuro. Wir kannten Wechselkurse und Grenzkontrollen - und kämpften für ein geintes Europa. Corona hat den zu spät geborenen den Blick geöffnet, dass Grenzen auch geschlossen sein können. "Schengen" - wo liegt das? Heute gibt es zwar einige Reaktionäre, die wieder zurück wollen und sich als „Alternative“ bezeichnen, aber ist es nicht bloß die Nostalgie der ewig zu spät kommenden? Harz war schon immer klebrig und man konnte es nicht mehr los bekommen. Nur heute schreibt man es hinten mit „tz“.


Wir hatten damals noch keinen Namen für unsere Generation, so wie heute eine "Generation Praktikum". Wir warne eine ganz normale "Generation anders". Statt zu daddeln und mit Facebook Zeit zu verschwenden lernten wir einen anständigen Beruf. Wir sind angekommen und verändern die Geschichte mit jedem Tag. Unsere Generation hat alles verändert, was je unter dem Begriff Kindheit und Jugend verstanden wurde. Wir haben die Welt durch unsere pure Masse verwandelt; denn ihre Masse schuf eine Kaufkraft, wie es sie nie vorher gab. Wir haben nicht nur Nahrung gegessen; wir haben die Snacks, die Restaurants, die Supermarktindustrie umgewandelt, Wir haben nicht nur Kleider getragen; wir haben die Modeindustrie verändert. Wir haben nicht nur Autos gekauft; wir haben die Autoindustrie transformiert und führen autonomes Fahren ein. Wir sind nicht nur zur Arbeit gegangen; wir haben unsere Arbeitsplätze revolutioniert mit I40 und modernen Workflows. Wir haben nicht nur geheiratet oder auch nicht; wir haben menschlichen Beziehungen verwandelt und erweitert. Wir haben sich nicht nur Geld geliehen und verliehen; wir haben die Finanzmärkte verändert. Wir haben nicht nur mit Papier und Bleistift gerechnet, wir haben die Technologien verändert. Wir haben nicht nur Space Invaders gespielt; wir haben die Simulationen und Programme geschrieben, die unsere Gesellschaft antreiben.


Wir... Das bist Du.

Du weißt das alles.
Du hast das alles mitgemacht und Dein Abi noch ohne PC geschafft.
Und die Referate bis zur Diss ohne Copy-Paste.
Denn Du hast die wichtigen Dinge im Kopf, nicht virtuell.
Und das ist gut so.

Text: Christof Ebert, Ideen und Tipps dazu: Mannigfaltig



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